Du kannst alles schaffen! Warum dieser Leitsatz falsch ist und weshalb uns ein wenig Reflexion und Realitätsbezug manchmal ganz gut tun würde #selbstliebe #motivation #selbstfürsorge #rant #tacheles
Life,  Gedankenwelt

Du kannst alles schaffen – oder doch nicht?

Ich kann gar nicht sagen, wie mich dieser ganze „Lifecoach“ und „Selbstliebe“-Quatsch auf Insta, Tiktok und Co. gerade annervt. Überall liest man „Mach einfach! Du kannst alles erreichen!“ und hört „Du musst es nur fest genug wollen und hart genug arbeiten und du kannst alles schaffen!“. Nö, einfach nö! Was für ein Bullshit, ehrlich!

(Achtung, das hier wird ein Rant. Wenn dir dieser Begriff nicht geläufig ist, google bitte danach und sag mir nicht, ich sei zu unfreundlich. Danke!)

Mir geht dieses ganze unreflektierte Gequatsche mittlerweile so dermaßen gegen den Strich. Als ob sich anstrengen ausreichen würde, um Lebenswünsche zu erfüllen. Als ob es reichen würde, etwas einfach nur aus ganzem Herzen zu wollen und dann kommt es so. 

Im Endeffekt werden essenzielle Punkte einfach außer Acht gelassen.
Die äußeren Rahmenbedingungen:

Ja, ernsthaft. Jeder Mensch hat Rahmenbedingungen, auf die er keinen Einfluss hat. Sei es der finanzielle Rahmen, der zeitliche Rahmen oder auch an Angeboten oder Räumlichkeiten. An manchen Dingen kann man etwas drehen und daran arbeiten, doch vieles reicht einfach nicht aus, um große Pläne in die Tat umzusetzen. 

Ich wünsche mir seit Jahren von Herzen, ein Hofcafé eröffnen zu können. Das ist kein geheimer Traum, denn den kommuniziere ich immer wieder. Da kann ich noch so sehr träumen, wenn sich die passende Immobilie nicht findet und der Preis für einen Umbau so viel kosten würde, dass mir ein Kredit verwehrt bleibt.

Um finanziell daran etwas zu ändern, müsste die Betreuungssituation der Kinder sich verbessern, denn wir haben kein soziales Netz, das uns unterstützt, wenn ein Kind krank ist und die Betreuungszeit der Grundschulkinder endet in jedem Fall spätestens um 14 Uhr.

Äußere Umstände eben, auf die man kaum oder wenig Einfluss hat. Dinge, die allein durch die Lebenssituation, in die man hinein geboren wurde, oftmals kaum abänderlich sind.

Das persönliche Päckchen:

Ich habe seit einem Sturz auf den Hinterkopf Konzentrationsschwierigkeiten, die sich seit unserer Corona-Infektion noch verschlimmert haben. Teilweise habe ich Wortfindungsstörungen (weswegen es hier auch gerade sehr wenig zu lesen gibt) und Schlafstörungen (nein, nicht nur die Kinder), die mich jeden Morgen wie ausgekotzt fühlen lassen. 

Es liegt nicht in meiner Hand, das zu beheben und mich dadurch wieder zugänglicher für Bildungsthemen und Recherche für meinen Lebenstraum zu machen. Es geht einfach nicht.

Und da ist dann noch der (auf Twitter so schön genannte) schwarze Hund, der viele Menschen trifft, auch wenn man es ihnen nicht ansieht: Depressionen, psychische Leiden und Prägungen aus der Kindheit – auch wenn das nicht als Ausrede für alles gilt – sind mit ein Päckchen, das man trägt und Einfluss nimmt auf Glück, Selbstverwirklichung und Selbstliebe.

Hier haben wir noch nicht von Alltagsrassismus, Klassismus und Geschlechterdiskriminierung gesprochen.

Aber hey, so schwer kann es ja nicht sein. Man muss es nur fest genug wollen oder?

Durch Care Arbeit erschöpfte und finanziell ausgelaugte Menschen haben sicher noch Kraft, Zeit und Geld, um Workshops von selbsternannten Motivationscoaches, Selbstliebeprofis und „positive Mindset“-Redner*innen zu buchen, statt zu versuchen, sich irgendwie über Wasser zu halten.

Es klingt immer so schön, dieses „Du musst es nur ernsthaft wollen!“ und „Mach doch einfach!“.

Was dieser ganze Mist unterschwellig sagt:

Du bist noch nicht am Ziel? Hey, dann hast du dich wohl noch nicht genug angestrengt! Du bist nicht entspannt und gelassen? Dann warst du wohl nicht bereit, von deinem Geld, das du aufstocken musst, die 500 Ocken für mein Selbstliebeseminar zu zahlen.

Kurzum: Wer nicht glücklich, finanziell sorglos und erfolgreich ist, will es wohl einfach nicht genug. Und das ist ein verbaler und mentaler Schlag ins Gesicht vieler Menschen, die sich tagtäglich den Arsch aufreißen, ständig über ihre Grenzen gehen, um am Ende des Tages wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa zusammenzubrechen, weil die Last und der Druck zu viel sind.

Ein schaler Trend, der sich durch Social Media seucht und Menschen, die eh schon am Limit sind, noch weiter runter putzt.

Du kannst alles schaffen? Echt jetzt?

Klar. Innerhalb deiner Rahmenbedingungen passend zu deinem eigenen Kraftkontingent und deinen finanziellen und mentalen Möglichkeiten.

Ich bin realistisch. Mein Hofcafé wird es so wahrscheinlich nie geben. Dazu fehlt mir das Geld, die Zeit und auch die Kraft. Außerdem gibt es hier seit Jahren kaum Immobilien, die sich auch nur im Ansatz dazu eignen würden. Träumen tue ich dennoch davon. 

Und so wird es vielen gehen. Ob das das Traumauto, die erfolgreiche Selbstständigkeit oder whatever ist. Es scheitert nicht daran, dass man es nicht genug will, dass man nicht genug dafür ackert. Es scheitert schlicht daran, dass es finanziell, durch die Sozialisierung, durch Alltagsrassismus oder Diskriminierung nicht umsetzbar ist – egal, wie sehr das Herz danach schreit.

Also bitte, falls du auch denkst, das kann doch gar nicht sein. Da muss man sich eben mehr reinknien: Bekomm deinen Wohlstandshintern mal vom hohen Ross, setze dich mit zu den Menschen, die tagtäglich kämpfen, sich (wie auch immer) über Wasser zu halten, auseinander und lauf erst in deren Schuhen, bevor du unreflektiert was von „JEDER KANN ES SCHAFFEN“ und „WENN ICH DAS KANN, KANNST DU DAS AUCH!“ ins Internet zu rotzen!

Danke für die Aufmerksamkeit!

Herzlichst, die Julie

 

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